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30 Jahre – Geschichten und Gesichter aus dem Verein

 
In 30 Jahren — Hilfe zur Selbsthilfe Begegnung Jena e.V. wurden unter dem Leitbild von und für Betroffene viele Lebensgeschichten begleitet und unzählige Geschichten mitgeschrieben. Einige Erfahrungen der Menschen, welche in diesen Jahren in unterschiedlichen Bereichen und Funktionen unsere Angebote bereichert haben, wollen wir sichtbar machen.

Mit Ihren Geschichten und Bildern zeigen die Beteiligten was — ‚von und für Betroffene‘ in einer zieloffenen Suchhilfearbeit ermöglicht. Die hierbei erzählten Geschichten wurden mit den Beteiligten auf-gezeichnet und ermöglichen zusammen mit den Porträtfotos einen kleinen Einblick in das Leben und die Arbeit der vielen sehr engagierten ehrenamtlichen und professionellen Mitarbeiter in der Vereinsgeschichte.
Die Auseinandersetzung mit einer Abhängigkeitsproblematik stellt Menschen vor die unterschiedlichsten individuellen und sozialen Herausforderungen. Der Umgang mit einer Abhängigkeitserkrankung bzw. problematischem Konsumverhalten, ist für Menschen, die selbst betroffen sind oder diese Problematik als Bezugsperson im sozialen Umfeld miterleben eine große Herausforderung. Es gilt bestehende Handlungsstrategien und -kompetenzen zu verändern bzw. anzupassen.
Diese Veränderungen erweisen sich häufig als ein langwieriger Prozess, somit eher als Marathon wie als Sprint. Es werden Veränderungen in der bisherigen Lebensweise notwendig, die weitgreifend sind und manchmal den bisher gelernten Lösungsstrategien entgegenstehen. Dies zeigt sich nur selten in einfachen und linear verlaufenden Entwicklungen.
Von diesen individuellen Veränderungsprozessen und Herausforderungen berichten die Geschichten. Sie zeigen auf, dass der Umgang mit einer Abhängigkeitserkrankung von jedem selbst und über die eigene Selbstwirksamkeit erfolgt. Sich als handelnde Person wahrzunehmen, bedarf Räume in denen diese Erfahrungen gemacht und erlebt werden können.
Wir danken den Menschen, die hier ihre Geschichte teilen sowie Wolfgang Unger für die fotographische Unterstützung dieses Projektes.

Alfred (80)

Als selbst Betroffener musste ich 1985 feststellen, dass die Selbsthilfelandschaft in Jena eher gering ausfiel. Ich habe bis 1984 in einer Mensa, als Küchenmeister gearbeitet und ein Problem mit meinem Alkoholkonsum entwickelt.
Als die Idee entstand, selbst eine Selbsthilfegruppe zu gründen, befand ich mich gerade auf der Entzugsstation. Potenzielle Mitglieder waren also nicht weit entfernt und die Nachfrage war groß. Allein beim ersten Treffen waren 14 Personen anwesend, welche sich fortan 14-tätig trafen. Zuerst in Gaststätten, später dann in den eigenen Wohnzimmern der Mitglieder.
Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass Gespräche allein nicht ausreichen, um eine langfristige Abstinenz aufrechtzuerhalten. Es mussten Beschäftigungsmöglichkeiten her. Und dies verwirklichten wir durch den Aufbau der Sero*-Annahmestelle.
Da ich längere Zeit, als Sozialpädagoge in einer Jugendwerkstatt, gearbeitet hatte, bestanden gute Verbindungen zur Stadtverwaltung und den schon bestehenden Hilfsangeboten. Über die Jahre hatten wir Kontakte zu anderen Selbsthilfeangeboten in anderen Regionen und haben uns so über verschiedene Selbsthilfeaktivitäten und –projekte informiert. Zehn Jahre nach der Gründung der Selbsthilfegruppe kam dann der Entschluss der Vereinsgründung. 1994 wurde der Verein „Hilfe zur Selbsthilfe- Begegnung Jena e.V.“ aus der Selbsthilfegruppe heraus gegründet. Und durch die Gründung entstanden neue Fragen, so zum Beispiel die nach der Finanzierung. Viele meinten damals, „.. das wird sowieso nichts, was der Hertel da macht.“ Und es war damals tatsächlich nicht sonderlich leicht, als „Neueinsteiger“.
Rückblickend hätte ich die Chancen des Vereins mit 50/50 eingeschätzt. Es hat funktioniert, es hätte jedoch an vielen Stellen scheitern können. Denn es gab bereits die Suchtberatungsstelle der Suchthilfe in Thüringen gGmbH (SIT) und das Blaue Kreuz, welche große Träger mit finanziellen Mitteln hinter sich hatten. Unser Verein war sein eigener Träger und damit auch unabhängig. Die Idee der Gebrauchtmöbelmärkte kam durch die vielen Räumungsaktionen mit denen uns die Stadt beauftragte. Nach der Wende waren viele Wohnungen verlassen, was neue Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Da wir uns um Einrichtungsgegenstände und die Müllentsorgung selbst gekümmert haben, konnten wir günstigste Angebote vorhalten und bekamen mehr Aufträge als wir durchführen konnten.
Im Laufe der Jahre entstanden weitere Zweckbetriebe, mit unterschiedlichen Arbeits– und Beschäftigungs-angeboten, die Anzahl der Selbsthilfegruppen stieg und weitere Angebote aus dem Bereich der professionellen Suchthilfe kamen dazu. Im Dezember 2009 habe ich meinen Posten als Geschäftsführer abgegeben und bin seit 2010 noch im Vorstand des Vereins tätig. Ich organisiere unter Anderem noch einen Teil der Freizeitangebote, wie das monatliche Bowling und die Skatturniere mit.
Wir haben in den Jahren viele Erfahrungen gemacht, dass es als kleiner Träger nicht immer einfach ist. Angebote von und für Betroffene zu gestalten war und ist mir ein persönliches Anliegen. Wir haben mit unseren Angeboten vielen geholfen wieder Fuß zu fassen und eine Möglichkeit geboten sich wieder in  Arbeitsprozesse einzubringen, um ihr Leben selbstständig zu gestalten.
*Sero– Sekundärrohstoffe, wiederverwertbare Wertstoffe u.a. Papier und Altglas.

Gerlinde (76)

Ich bin seit 20 Jahren trocken und froh, dass ich nicht zu Hause rumsitzen muss, solange ich kann und sie mich haben wollen, so lange koche ich hier in der Tagesstätte. Ich komme ursprünglich aus dem Eichsfeld und bin auf dem Dorf großgeworden. Da war Alkohol immer präsent und bei jeder Feierlichkeit auch viel. In den letzten 5 Jahren vor meinem Entzug habe ich täglich und schon früh getrunken, ich war Spiegeltrinkerin. Ich habe immer mein Quantum gebraucht und habe mich nie so betrunken.
Der Alkohol hat mir auch bei der Reduzierung von Symptomen einer Erberkrankung geholfen. Ich habe seit meinem 17. Lebensjahr einen essenziellen Tremor (Zittern der Hände). Wenn ich Alkohol getrunken habe ging das Zittern zurück. Ich glaube daher, dass dies auch ein Grund ist warum mir ein Entzug und eine Therapie ausgereicht hat und ich nicht so einen ‚Suchtdruck‘ wahrnehme. Gegen den Tremor habe ich jetzt Medikamente, die das Zittern verringern.
Der Alkoholkonsum wurde über die Zeit einfach kontinuierlich immer mehr. Ich habe dann in der Gastronomie gearbeitet und da fiel es auch gar nicht so auf. Bis mein Sohn, der keinen Alkohol mehr trinkt, mich dann motiviert hat auch aufzuhören.
Ich bin dann (2002) zu meiner ersten und einzigen Entgiftung auf die Station 4 gegangen. Dort hat die damalige Sozialarbeiterin den Verein vorgestellt und wir haben uns das gemeinsam angesehen. Das war noch bei Rewe, das Haus existiert jetzt nicht mehr. Ich bin dann erst zur Langzeittherapie und habe  da dann auch nochmal eine Vorstellung der Angebote mitbekommen und mir dann gedacht, da habe ich gleich was im Anschluss. Zunächst wollte ich erstmal nur in die Selbsthilfegruppe gehen. In die Gruppe bin ich dann viele Jahre gegangen.
Ich war dann ein Jahr arbeitslos und habe bei Öffnung der Tagesstätte mitgemacht und wurde da auch bald angestellt. Seit dem koche ich in der Tagesstätte, früher 5 Tage und seit einigen Jahren 4 Tage in der Woche.
Was ist für Dich das Besondere an diesem Verein?
Mir hat es gefallen, wie sich der Verein damals vorgestellt hat, damals gab es ja wenig. Und in unserer Selbsthilfegruppe ist es mehr eine Gemeinschaft und wir gehen freundschaftlich miteinander um, das hat mir gefallen. Wir haben in der Gruppe auch über den Alkohol gesprochen. Für mich waren andere Gruppen, die immer und ausschließlich nur über Alkoholabhängigkeit reden und jeder über seine Woche berichtet, nicht so meins.
Hast Du noch Bedenken Rückfällig zu werden?
Am Anfang schon, gleich so die ersten Jahre, aber jetzt ist das kein Thema mehr. Mit der Diagnose und den Medikamenten geht es mir gut. Ich glaube, wenn ich jetzt wirklich mal einen Schluck trinken würde, dann würde ich nicht gleich wieder trinken müssen. Ich weiß aber von Anderen, von der Entgiftung, die dann nur eine Pralinen mit Alkoholfüllung gegessen haben, die haben dann wieder angefangen zu trinken.
Ich weiß, dass würde mich nicht stören. Und manchmal, da isst du eine Praline, die man geschenkt bekommt und dann merkst du, dass bitzelt auf der Zunge. Du merkst dies als Alkoholiker sofort. Mein Sohn würde die Praline sofort ausspucken, macht er auch. Aber mich stört das nicht, ich habe da keine Bedenken, da müsste mir einer etwas eintrichtern. Ich hätte eher mehr Angst vor den Konsequenzen wie es mir gehen würde, wenn ich jetzt wieder nach so langer Zeit anfangen würde Alkohol zu trinken. Wie es mir dann körperlich geht, das ist eine Barriere für mich. Das stelle ich mir jetzt ganz furchtbar vor, mich hat der Alkohol im Umfeld nie gestört. Ich weiß aber von anderen die haben da ein Problem und trinken dann wieder.
Was würdest Du anderen Betroffenen sagen?
Da kann man keinen Ratschlag geben, es muss jeder seinen eigenen Weg finden.

Horst (71)

seit 10 Jahren trockener Alkoholiker und Mitglied des Vereins Hilfe zur Selbsthilfe Begegnung Jena e.V..
Meinen ersten Kontakt zum  Alkohol hatte ich in meinen 20ern. Zu diesem Zeitpunkt war mein Konsumverhalten aber noch nicht problematisch.
Das exzessive Trinken fing erst 20 Jahre später an, nachdem ich arbeitslos geworden bin. Weil ich so viel trank, verließen mich meine damalige Lebensgefährtin und die Kinder. Von da an trank ich noch mehr. Mein Tag bestand dann nur noch daraus, mich mit einer festen Gruppe von 10-15 Personen zu treffen, um zu trinken. Ich trank immer das harte Zeug, also Schnaps und nie Bier. Zu dieser Zeit fühlte ich mich sehr alleine. Ohne die Hilfe von Außen hätte ich es nie geschafft aufzuhören.
Ich habe 2008 während eines Aufenthalts auf der Entzugsstation von dem Angebot der Tagesstätte erfahren. Ich brauchte eine neue Tagesstruktur für mein Leben ohne Alkohol. Deswegen bin ich dann in die Tagesstätte des Vereins gegangen. In der Zeit war ich auch in verschiedenen Selbsthilfegruppen und hatte auch Einzelgespräche bei einer Suchtberatung. Das alles war sehr wichtig für mich und hat mir sehr geholfen. Ich hatte damals aber relativ konstant, aller 2 Monate, einen Rückfall und habe alleine zu Hause zur Flasche gegriffen.
Mit den Mitarbeitern des Vereins habe ich dann über meine Möglichkeiten gesprochen, wie es weiter gehen kann und bin zu einer Langzeittherapie mit Adaption (zur Stabilisierung der Abstinenz).
Danach wollte ich wieder in meinem Beruf arbeiten, doch das klappte leider nicht. So bin also wieder in die Tagesstätte und war im Verlauf mehrerer Jahre, in größeren Abständen, immer wieder rückfällig. In den Gesprächen wurde eine nochmalige Therapie angeregt, um im Anschluss wieder in die Tagesstätte zu gehen.
Nach dieser Therapie hatte ich noch einen Rückfall. Da habe ich eine Woche so exzessiv getrunken, dass es mir wirklich richtig schlecht ging. Seit dem habe ich nie wieder getrunken.
Das sind jetzt schon über 10 Jahre. Aber warum es bei diesem Mal anders war und ich es geschafft habe nicht wieder rückfällig zu werden, kann ich nicht genau sagen. Ich bin einfach froh, dass es so ist. Nach dem Entzug habe ich mit meiner alten Gruppe den Kontakt abgebrochen und bin kein einziges Mal mehr bei den Treffen erschienen. Das war ein sehr großer Schritt für mich und hat sehr geholfen. Ich habe mir neue Freunde in der Tagesstätte gesucht, oder auch alte Freunde dort wieder getroffen, die auch, wie ich, gegen ihre Abhängigkeit gekämpft haben. Außerdem bin ich immer an Feiertagen, an denen ich mich besonders einsam gefühlt habe, auf Station in die Klinik gegangen, um einem Rückfall vorzubeugen.
Um mehr Sicherheit und Stabilität zu bekommen, wurde ich Mitglied im Verein. Seit dem ich rückfallfrei bin, gehe ich regelmäßig auch ins Kontaktcafé. Ich helfe dort unter anderem, die Räumlichkeiten zu reinigen. In den Sommermonaten bin ich für den Garten der Tagesstätte zuständig. Hier bauen wir Gemüse an, welches wir bei der Zubereitung unserer Mahlzeiten in der Tagesstätte verwerten. An den Wochenenden und über die Feiertage bin ich ehrenamtlich als Ansprechpartner in der offenen Begegnungsstätte tätig. Die Begegnungsstätte  bietet ein offenes „trockenes“ Angebot zur Begegnung, zu Gesprächen sowie zur Freizeitgestaltung mit Skat, Billard, Tischtennis uvm..
Ich engagiere mich gern im Verein, damit Menschen, denen es wie mir geht, auch in den Phasen, in denen keine sozialen Einrichtungen offen sind, eine Anlaufstelle haben, wenn es ihnen nicht gut geht. Diese Arbeit im Verein gibt mir einen positiven Sinn und lenkt mich zudem auch selbst in solchen Phasen ab. Ich bin sehr dankbar für die Hilfe, die ich zu der Zeit vom Verein bekommen habe, als ich noch trank. Der Verein hat mich nie fallen gelassen und hat immer an mich geglaubt.

Gina (36)

Angefangen hat alles mit THC (Cannabis), als ich 15 war. Damals bin ich von zu Hause ausgezogen und habe bei meinem damaligen Freund gewohnt, der ‚Kiffer‘ war. Ich habe dann direkt regelmäßig angefangen zu kiffen. Mittlerweile kann ich es nicht mehr riechen. Mit 20 Jahren habe ich in einer Lebenskrise mit dem Heroinkonsum angefangen und das auch direkt gespritzt (intravenös) konsumiert. Ich wollte mir damals das Leben nehmen. Das hat aber nicht ganz funktioniert und so bin ich darauf hängen geblieben. Ich kam nicht klar und wollte nur vergessen und nichts mehr fühlen. Ich bin dann sehr schnell, nach einem 1/2 Jahr, in eine Substitutionsbehandlung (Ersatzstoffvergabe) gegangen und hatte aber noch Beikonsum mit Benzodiazepinen. Ich habe mich über längere Zeit runterdosiert und mit 27 Jahren habe ich vom Substitut entzogen. Im Anschluss war ich dann 3 ½ Jahre clean, weil ich wieder Mama wurde. Ich komme ursprünglich aus Bayern und habe eine 20-jährige Tochter, einen 9-jährigen Sohn und eine 8-jährige Tochter. Meine beiden älteren Kinder lebten schon nicht mehr bei mir und nach der Geburt meiner jüngsten Tochter war ich 2 Jahre und 3 Monate in einer Mutter-Kind- Einrichtung in Wolfersdorf. Ich bin im Anschluss nach Jena gezogen, da ein Ortswechsel für mich eine Möglichkeit geboten hat, mich neu zu orientieren. Als mir meine jüngste Tochter weggenommen wurde, habe ich wieder mit dem Drogenkonsum angefangen und das war dann Crystal (Methamphetamin). Vor drei Jahren habe ich von einem Bekannten vom Kontaktcafé gehört, der mir erzählt hat, dass ich dort über meine Suchtprobleme sprechen kann. Ich wollte wieder eine Therapie beginnen, um für meine kleine Tochter kämpfen zu können. Ich habe vorher schon fünf Suchttherapien angefangen, die ich aber nie mehr als 12 Wochen durchhalten konnte.
Ich bin dann im Kontaktcafé einfach aufgeschlagen, mit meinem damaligen Lebensgefährten. Das war damals schon eher eine Art ‚Überfall‘, wir waren beide sehr sehr schnell, sehr sehr viel, denn wir haben beide ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung): „…hier, ich will Hilfe, hier bin ich und jetzt macht mal“ und wir sind direkt angenommen worden, so wie wir waren. Wir haben dann Beratungsgespräche im Kontaktcafé geführt und eine weitere Therapie beantragt undd irekt im Anschluss habe ich mit einer Nachsorge (zur Stabilisierung der Abstinenz) begonnen. Durch die kontinuierlichen Anbindung über das Kontaktcafé habe ich den Verein kennengelernt und bin seit März letzten Jahres im Verein ehrenamtlich tätig. Die Tagesstruktur durch das Ehrenamt, verbunden mit der daraus entstehenden Verpflichtung und auch die Verantwortung für meine Tochter und meinen Hund haben mir Halt geben. Ich habe mit kleinen Aufgaben im Kontaktcafé angefangen. Flyer falten, bei der Reinigung helfen und habe dann durch meine Erfahrungen aus meiner Kochausbildung in der Küche ausgeholfen. Seit Oktober vergangenen Jahres arbeite ich, an drei Tagen in der Woche, in der Begegnungsstätte in der Lehr– und Trainingsküche. Es macht mir sehr viel Spaß und hilft mir, eine Tagesstruktur für mich zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Jetzt bin ich seit einem Jahr clean.
Ich fühle mich hier angekommen und verstanden. Das war vorher nicht so in den anderen Einrichtungen oder Jobs, die ich hatte – ich bin schnell, ich bin laut und damit klarzukommen, ist eine Sache für sich, aber hier im Verein klappt das.
Der Umgang ist anders hier, die Leute sind verständnisvoller und man kann ohne sich zu schämen Sachen ansprechen. Bei den Mitarbeitern wird man angenommen und es ist echt selten, dass ich mich mal bei Menschen wohlfühle oder sie an mich ranlasse. Ich bin damals mit dem Vorurteil ins Kontaktcafé gekommen, dass man nur herkommt, um Leute kennenzulernen, um etwas (Drogen) kaufen zu können, aber das ist zum Glück hier nicht so. Ich wurde direkt von den Mitarbeitern angesprochen und offen aufgenommen. Mir ist es wichtig, dass man neutral und ohne Vorurteile auf andere zugeht, egal welche Probleme sie haben.

Günther (61)

Damals hattest du einen Vollzeitjob und heute hältst du Vorträge und bist ehrenamtlich innerhalb des Vereins „Hilfe zur Selbsthilfe“ tätig, was genau sind deine Aufgabengebiete?
Als ich vor acht Jahren in die Tagesstätte für  suchtkranke Menschen des Vereins gekommen bin, war ich bereits seit einem Jahr trocken. In der Tagesstätte habe ich Struktur erfahren, die ich dringend gebraucht habe. Seitdem übernehme ich dort viele verschiedene Aufgaben. Ich bin z.B. der Hauptverantwortliche für unseren Garten. Aber auch haushälterische und handwerkliche Aufgaben gehören dazu. Da ich gut mit Menschen ins Gespräch komme, helfe ich auch alle zwei Wochen beim Brunch in unserem Kontaktcafé. Das ist eine Aufgabe, die mir sehr viel Freude macht. Außerdem halte ich Vorträge über meinen Weg aus der Alkoholsucht auf der psychiatrischen Station für Suchterkrankungen. Dort stelle ich auch gleichzeitig unseren Verein vor.
Wann war klar, dass der Alkohol dein Leben dominiert?
Während meiner Ehe fing ich bereits an, mir ein regelmäßiges Feierabendbier zu gönnen. Ich trank nie mehr als drei Bier und am Wochenende gar nicht. Dies steigerte sich aber allmählich auf fünf bis sieben Bier am Abend.
Dann gab es einen Schicksalsschlag nach dem anderen. Ich war ca. 40 Jahre alt als meine Frau und ich uns scheiden ließen. Kurz danach starben meine Mutter und auch mein Vater. Das alles habe ich in der kurzen Zeit seelisch nicht verarbeiten können. Mein Alkoholkonsum stieg rapide an. Ich trank schnell mal 20 Bier und etwa 1,5 Flaschen Schnaps am Tag. Als ich dann sturzbetrunken die Treppen hinunter fiel und in ein künstliches Koma versetzt werden musste, war mir klar, es muss sich etwas ändern.
Wie ist dir die Abstinenz gelungen?
Nachdem ich aus dem Koma erwacht war und nicht wusste, was geschehen war, kam eine Ärztin an mein Bett und berichtete mir von meinen Befunden. Es stellte sich heraus, dass ich verschiedene schwerwiegendere Erkrankungen hatte. Diese waren u. a. durch meinen früheren Beruf als Metzger bedingt und durch den Alkohol verschlimmert wurden. Ich war praktisch arbeitsunfähig.
Noch im Krankenhaus beschloss ich mein Leben zu ändern. Ich wollte gesund werden und entgiften. D. h. ich wollte im ersten Schritt meine körperliche Abhängigkeit vom Alkohol überwinden und danach meine psychische Abhängigkeit. Hierfür habe ich an einer Langzeittherapie teilgenommen, deren Klinik weit weg von meinem Wohnort war, sodass ich durch meine damaligen Freunde und Bekannte nicht wieder in Versuchung geführt werden konnte.
Danach habe ich freiwillig weitere Angebote, bei der Suchtberatung in Anspruch genommen bis ich dann letztendlich im Verein „Hilfe zur Selbsthilfe“ in Jena gelandet bin. Dort habe ich mich neben dem Besuch der Tagesstätte, auch einer Selbsthilfegruppe angeschlossen, welche mir viel Halt gegeben hat.
In diesem Verein bin ich bis heute und bin dankbar, dass ich hier Unterstützung und ein familiäres Umfeld gefunden habe.